Leseclub – Eine Geschichte von Ulrike Schmoller

Der lange Reginald und der Frühling

Reginald war ein Regenwurm, und zwar ein ganz besonderer. Nun haben Regenwürmer ja im Allgemeinen nicht viel, wodurch sie sich von anderen unterscheiden können, Reginald aber war von einer so stattlichen Länge, dass er damit alle seine Kollegen übertraf. Darauf war er mächtig stolz und manchmal war er auch ein bisschen eingebildet. Reginald lebte in einem großen, wunderschönen Garten, beziehungsweise darunter, wo er sich in der Erde ein großzügigesTunnelsystem angelegt hatte. Dort war es natürlich schön dunkel und feucht und im Winter auch warm genug, dass er es gemütlich hatte. Tagaus tagein ging er seiner Arbeit nach, die Erde schön locker zu halten.

Eines Tages grub er so vor sich hin, da stieß er auf einmal in einen größeren Gang. Was war das? Neugierig folgte er ihm und gelangte in eine kleine Höhle, in der eine Spitzmaus mit ihren Kindern wohnte. Die beiden kamen rasch ins Gespräch miteinander. Reginald bewunderte ausgiebig den reizenden, wohlerzogenen Mäuse-Nachwuchs, und die Maus erzählte vom Frühling im Garten. Wie die Sonne das Gras erwärmte, wie die Blumen nach und nach aus dem Boden schauten, und dass sie vor allem die Tulpen besonders mochte. Schmetterlinge in allen Farben flögen dort herum. Reginald kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, denn davon hatte er noch nie etwas gehört. Er wollte aber auch nicht zugeben, dass er keine Ahnung hatte, was eine Tulpe war. Dann dachte er sich: Wenn ich dem Gang der Maus folge, dann muss ich doch irgendwie in diesem Garten herauskommen. Wenig später steckte er seinen Kopf das erste Mal ins Sonnenlicht. Es war noch früh am Morgen, das Gras war noch voller Tau. Wie das kitzelte, als er zwischen den Halmen hindurch kroch! Unter einem Baum stand ein leerer Wäschekorb, um den musste er herum. Aber was war das? Er hörte ein wohliges Schnarchen – und da lag doch tatsächlich ein großer Teddybär in einem Liegestuhl. Reginald räusperte sich: „Ähem, guten Tag!“ Der Teddybär schlug die Augen auf. „Häh, wer bist denn du?“ Reginald streckte sich: „Ich bin der lange Reginald und komme aus der Unterwelt.“ “Ah püh, ah so, aha, also ich bin Tüdelütt, der Teddybär von Liese und diese Tüddeltante hat mich die ganze Nacht hier im Nassen sitzen lassen, hatschü!“ „Oh, da hast du es ja schön feucht und dunkel gehabt.“ „Also warm und trocken ist mir lieber, ehrlich. Aber jetzt kommt ja zum Glück bald die Sonne raus. Es gibt nichts Schöneres als den ganzen Tag faul in der Sonne zu liegen!“ Da kam Liese herbei gesprungen, drückte Tüdelütt an sich und trug ihn ins Haus, wobei sie heftig auf ihn einredete. Reginald nutzte die Gelegenheit, sich in den Liegestuhl zu legen und „faul“ zu sein. Am Anfang fand er es ganz nett, aber schon bald wurde ihmlangweilig und seine Haut wurde ganz rau. Was sollte daran denn schön sein? Er sehnte sich nach seiner kühlen Erde und trat schon bald den Heimweg an. Daheim hatte er seinen Kollegen viel zu erzählen. Von nun an war er wirklich etwas Besonderes: Reginald, der Regenwurm, der den Frühling erlebt hatte.

Ulrike Schmoller

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