Holocaust-Überlebender spricht vor Oberstufe

„Überleben war Zufall“. Nicht nur einmal  war es pures Glück, Schicksal oder Vorsehung, dass Leon Weintraub die dunkelste Zeit Deutschlands überlebte. Am vergangenen Dienstagvormittag stand der 92jährige Herr jüdischer Abstammung im großen Saal der Freien Waldorfschule vor ca. 100 Oberstufenschülern , die mit einer Altersspanne zwischen 14 und 19 Jahren in etwa  jene Lebensphase abbildeten,  in welcher der mit seiner Ehefrau aus der Wahlheimat Schweden angereiste Gast  1939 bis 1945 unter dem Nazi-Regime litt.

Warum er sich die Strapazen der weiten Reise antue und den Kontakt zu jungen Menschen suche? „Weil ich noch im Stande dazu bin und eine Art Verpflichtung habe gegenüber meinen ermordeten Familienmitgliedern“ – und natürlich gegen das Vergessen.

Ruhig, besonnen und um größtmögliche Sachlichkeit bemüht erzählte der früh zum Halbwaisen gewordene Zeitzeuge von seiner Kindheit in  Lodz südwestlich von Warschau, seiner Freude am Lernen in der Schule und schließlich von  jenem Tag, als Lodz nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen von den Nazis eingenommen wurde. „Noch heute läuft mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, wenn ich an das Geräusch der nagelbesohlten Stiefel  der hochgewachsenen Wehrmachtssoldaten auf den Kopfsteinpflastern  denke.“ Um die Stadt Lodz von Juden zu befreien,  folgte die Zwangsumsiedlung in das Ghetto Litzmannstadt. Zu acht musste sich die Familie dort ein Zimmer teilen. Für einen Laib Brot als Wochenration arbeitete der junge Leon Weintraub zwölf Stunden unter unmenschlichen Bedingungen. Nagender Hunger war über all die Jahre täglicher Begleiter.

In merklich respektvoller Stille lauschten die Schüler den unfassbaren und  eindrücklichen Schilderungen wie z.B. der Deportation tausender alter und kranker Menschen sowie aller Kinder unter 10 Jahren, welche als nutzlose Esser betrachtet in den Tod geschickt wurden. 1944 wurde Leon Weintraub  nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort von seiner Familie getrennt. Seine Mutter sah er dort das letzte Mal. Sie starb kurz nach ihrer Ankunft in einer Gaskammer. Nur Geistesgegenwart und Glück retteten den jungen Mann  dann selbst vor der anstehenden Vergasung, indem er sich unbemerkt unter eine ausgewählte Gruppe Häftlinge für einen Außeneinsatz schmuggeln konnte.

Fast zwei Stunden referierte der aufrecht vor den jungen Zuhörern stehende betagte Herr aus seinem Leben, der sich erst im Jahre 1945 kurz vor Kriegsende  auf bereits französisch besetztes Gebiet in Sicherheit bringen konnte.

„Ich war damals allein, neunzehn Jahre alt, aber naiv wie ein Vierzehnjähriger und hatte mehr Todes- als Lebenserfahrung.“ Realisiert, „frei zu sein“, habe er erst, als er – erneut durch unglaubliches Glück – schon sehr bald drei seiner vier Schwestern wieder traf.

Mit großer Klarheit und Geistesgegenwart beantwortete der nach Kriegsende promovierte Humanmediziner am Ende die Fragen der Schüler und betonte dabei erneut seine ablehnende Haltung gegen jegliche Form von Ausgrenzung, Fanatismus und Populismus.

Ob sich so mancher Schüler insgeheim die bange Frage gestellt hat, was für ein Mensch man selber wohl zu dieser Zeit gewesen wäre, bleibt ungewiss. Welche Werte einen Menschen zum Menschen machen, war den Jugendlichen in Gegenwart von Leon Weintraub aber sicher allen klar geworden.

 

Schülerstimmen

„Unvorstellbar und erschreckend zu hören, was Menschen anderen Menschen angetan haben. Es ist unglaublich, dass ein Mensch so viel Grausames ertragen musste und trotzdem nun hier sitzen und davon erzählen kann, ohne daran kaputt zu gehen.“

„Ergriffen hat mich, als Herr Weintraub erzählte, wie er durch all die Grausamkeiten in einen Zustand verfiel, in dem er nur noch funktionierte, ohne dass er in der Lage war zu denken und sich um Angehörige zu sorgen. Ich finde, wir müssen dankbar sein, in einer anderen Zeit leben zu dürfen und ich hoffe, dass so etwas nie wieder passiert.“

„Ich finde es bewundernswert, dass Herr Weintraub das alles überstanden hat und trotzdem ohne Hass davon erzählen kann.“